Anne Emery-Torracinta

Anne Emery-Torracinta wurde 1958 in Genf geboren und absolvierte dort grösstenteils auch ihre Schulzeit. Nach dem Studium der Geschichte wurde sie Lehrerin. 1984 trat sie der Sozialdemokratischen Partei bei und engagierte sich auf kommunaler und Vereinsebene, etwa durch Gründung eines Kindergartens und eines Elternvereins. Anne Emery-Torracinta ist verheiratet und Mutter von drei Kindern, von denen eines autistisch veranlagt ist. Besonders stark engagierte sie sich in der Vereinigung von Verwandten und Freunden geistig behinderter Menschen und leitete diese von 2002 bis 2013. Im Jahr 2005 wurde sie in den Grossen Rat gewählt, 2013 in den Genfer Staatsrat.

«Jetzt ist es an der Zeit, die Familienpolitik neu auszurichten»

Als Grenzkanton ist Genf in der Corona-Pandemie besonders exponiert. Was hat sich dadurch in der Führung Ihres Departements und Ihres Kantons verändert?
Als Behörden waren wir sehr flexibel und agil. Oberste Priorität in meinem Departement hatte, den Online-Schulunterricht rasch in Betrieb zu nehmen. Unser Augenmerk galt dabei den leistungsschwächeren Schülern, sodass die Covid-Krise sie nicht zusätzlich benachteiligt. Eine besondere Herausforderung für den Kanton sind die Grenzkontrollen: Zehntausende von Beschäftigten, von denen viele in medizinisch-sozialen Einrichtungen arbeiten, kommen täglich über die Grenze.

Was würden Sie weiblichen Talenten als Tipp für ihren beruflichen Weg mitgeben?
Sagen Sie nicht, dass Sie vielleicht nicht über alle Fähigkeiten verfügen, um nach oben zu kommen. Männer fragen sich das selten. Engagieren Sie sich und kennen Sie Ihre Dossiers.

Welche strategischen Massnahmen betreffend Gender Diversity haben Sie in Ihrem Kanton und Departement definiert?
Die Förderung der Gleichstellung und der Vielfalt haben mich stets begleitet. 2020 hat der Genfer Staatsrat ein wegweisendes Gesetz zur Gleichstellung und Bekämpfung geschlechts­spezifischer Gewalt und Diskriminierung verabschiedet. Gleichstellung und Kampf gegen Sexismus sind auch in meinem Departement wichtige Themen, weil die Schule eine zentrale Rolle spielt.

Welche Resultate haben diese Massnahmen gezeigt?
Es gibt viele Beispiele, ich kann nur einige anführen. Seit 2017 verfügen wir über ein Dispositiv, um Transgender-Schüler besser zu anerkennen und zu schützen. Wir haben nicht-diskriminierende Lehrmittel entwickelt, etwa ein Kit für Lehrpersonen mit 26 Büchern zu allen Facetten der Vielfalt. Im Sinne einer möglichst offenen Berufsberatung fördern wir besonders für Mädchen Berufe und Laufbahnen in der Wissenschaft durch ein gemeinsames Projekt mit der Uni Genf.

Was sollten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft unternehmen, damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz gestärkt wird?
Als Abgeordnete war mein grösster Erfolg die Erhöhung der Familienzulagen, die Genf zu einem der grosszügigsten Kantone gemacht hat. Jetzt ist es an der Zeit, die Familienpolitik neu auszurichten — etwa mit einem Elternurlaub, der diesen Namen für Mütter und Väter verdient.

Ist es aus Ihrer Sicht ein Vorteil, wenn Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung Erfahrungen aus der Privatwirtschaft mit­bringen?
Das kann sein. Wichtig ist aber vor allem Lebenserfahrung im weitesten Sinne. So hat meine Aufgabe als Mutter eines Kindes mit Autismus viel dazu beigetragen, meine Widerstandskraft zu stärken und besser mit Stress umzugehen.

Öffentliche Verwaltungen müssen politische Vorgaben erfüllen, zugleich aber auch finanziellen Anforderungen genügen und sich weiterentwickeln. Wie gehen Sie damit um?

Genau dieses Spannungsfeld macht unsere Tätigkeit so faszinierend: Wir müssen eine Balance finden zwischen staatlichen Institutionen und einer sich rasch wandelnden Gesellschaft. Die Reaktion unserer Regierung auf die Covid-Krise hat jedoch gezeigt, zu welch starkem Engagement öffentliche Verwaltungen fähig sind und wie flexibel und rasch sie reagieren können.

Wo sehen Sie Möglichkeiten, um die öffentliche Verwaltung schlanker, effektiver und produktiver zu machen?
Indem wir die Verfahren vereinfachen und jede Hierarchieebene rechenschaftspflichtig wird, damit sie ihre Verantwortung übernimmt: Wir neigen dazu, Entscheidungen zu sehr zu zentralisieren. Auch muss die Digitalisierung weiterhin eine Priorität sein.